“Vollkommen überzeugt”

Fehler zugeben ist etwas, was vielen Leuten schwer fällt. Juristen sind hierfür – berufsbedingt – vielleicht noch ein wenig anfälliger als andere Berufsgruppen, insbesondere im Staatsdienst.

Wenn also ein Staatsanwalt eine Anklage geschrieben hat – insbesondere wenn vorher schon alle Zeugen der Polizei gesagt haben, dass sie den Beschuldigten trotz dreifacher Wahllichtbildvorlage nicht wiedererkennen – dann kann er oftmals nicht einsehen, dass seine schöne Anklage das Papier nicht wert ist, auf dem sie gedruckt wurde.

So im Rahmen der Hauptverhandlung in der oben verlinkten Sache. Alle Zeugen – allesamt aus dem Lager der angeblich Geschädigten (weil keiner der 10+ sonstigen Zuschauer für die Polizei als Zeugen in Frage kam) – haben wortwörtlich ausgesagt, dass sie den Mandanten nicht als Täter erkennen (wie ja auch der Polizei schon gesagt) – insbesondere auch die in der Anklage zitierte Hauptbelastungszeugin A. Auch die beiden Mitangeklagten haben zwar eingeräumt, beteiligt gewesen zu sein, die Anwesenheit des Mandanten aber ausdrücklich verneint.

Im folgenden Rechtsgespräch (um einen Fortsetzungstermin zu verhindern) sagt die Staatsanwältin angesichts dieser Beweisaufnahme, dass sie “vollkommen überzeugt” von der Mittäterschaft des Mandanten ist, dessen Anwesenheit bereits alle Beteiligten verneint haben. Woher sie diese Überzeugung nimmt, konnte sie aber nicht erklären…1

PS:
Als der ermittelnde Polizeibeamte gefragt wurde, wie er denn auf unseren Mandanten als Mittäter gekommen ist, war seine Logik sinngemäß:

Der dritte Täter hatte eine rote Baseballmütze auf. Der Mandant wurde 2010 mal von der Polizei mit einer Baseballmütze (Farbe unbekannt) angetroffen. Wir wissen also, dass er eine Baseballmütze hat und die anderen Angeklagten kennt. Daraus habe ich messerscharf geschlossen, dass er das gewesen sein muss.2


1 Dass mein Vertrauen in die “objektivste Behörde der Welt” bei solchen Staatsanwälten/-innen weiter schwindet, dürfte jedem einleuchten.
2 Eine weitere Sternstunde bayerischer Ermittlungstätigkeit.

Wenn der Staatsanwalt persönlich jede Frage beantworten muss

Die Staatsanwaltschaften – wie alle Behörden – stöhnt gerne über ihre Arbeitsüberlastung. Dass davon einiges hausgemacht ist, relativiert das Mitleid, dass man vielleicht haben möchte aber wieder.

Schreiben von der Staatsanwaltschaft B: Die beantragte Akte liegt zur Abholung an der Pforte bereit. Aufs Aktenzeichen geguckt – ja, das ist schon unser Aktenzeichen und unser Mandant. Nur war die Sache nicht bei der Staatsanwaltschaft A? Mal nachgeguckt in der Akte: Ja, war es. Von dort kam die Akte auch schon mal. Und an diese wurde auch schon eine Stellungnahme geschickt.

Was macht der Anwalt in dieser Situation, modern wie er ist? Richtig, er ruft die Geschäftsstelle an und fragt einfach mal nach, ob denn da Akten von A nach B gewandert sind, weil dann braucht er nicht zur 30 km entfernten Staatsanwaltschaft fahren, um die Akten zu holen. Die Dame am Telefon will helfen, könne dies aber nicht sagen. Die Akten seien ja auch beim Pförtner, da kann man jetzt nicht reingucken. Im System sei nichts. Ihre Lösung: Wir mögen doch ein Fax reinschicken mit der Frage, ob es die gleichen Akten sind. Dann könne sie das dem Staatsanwalt vorlegen.

Wieso man zwei Staatsexamina braucht, um die Frage zu beantworten, habe ich dann aber nicht gefragt. Interessant zu wissen wäre es sicher schon.

Theorie vs. Praxis – Auflösung

Am Dienstag hatte ich von einem klausurwürdigen Fall am hiesigen Amtsgericht berichtet. Nur ein Kommentator hat sich getraut, eine Einschätzung abzugeben. Die dortige Beurteilung von Robin Wiemert entspricht dem, was ich erwartet hätte, wenn man diesen Fall als Klausur stellen würde.

Im Detail:

Im Strafrecht gilt grundsätzlich, dass zur Bestrafung immer erforderlich ist, dass Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld bejaht werden können. Die Schuld ist gem. § 20 StGB auch dann ausgeschlossen, wenn der Rausch einen Grad erreicht hat, bei dem der Täter nicht in der Lage ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen und/oder gemäß dieser Einsicht zu handeln.

Im vorliegenden Fall entfällt daher die ansonsten zu bejahende Strafbarkeit nach §§ 142, 315c, 316 StGB wegen fehlender Schuld.

Möglich bleibt in solchen Fällen eine Strafbarkeit nach § 323a StGB (Vollrausch). Tathandlung des § 323a StGB ist nämlich nicht die Teilnahme am Straßenverkehr oder die Unfallflucht, sondern das Sichberauschen, welches zu der o. g. Nichtstrafbarkeit führt. Der Täter soll daher dafür bestraft werden, dass er sich berauscht hat, obwohl er damit rechnen konnte, dass er bestimmte Taten (nicht unbedingt Straftaten) begehen wird*.

Wie bei jeder Tat muss der Strafrichter jedoch Feststellungen dazu treffen, ob die Tathandlung tatsächlich begangen wurde, also hier, ob A sich tatsächlich vorsätzlich oder fahrlässig selbst(!) einen solchen Rausch angetrunken hat (vgl. OLG Köln, Blutalkohol 47, 296; BGH, Beschluss vom 08.12.1992 – Az. 4 StR 562/92). Ist er dazu nicht in der Lage, weil nicht zu ermitteln ist, wieso der Angeklagte berauscht war, so muss er zu seinen Gunsten davon ausgehen, dass dieser sich nicht selbst berauscht hat und ihn also  folgerichtig auch freisprechen.

Die Antwort auf meine Frage lautete also: A ist gar nicht zu bestrafen, möglicherweise kann ihm aber nach § 69 I StGB die Fahrerlaubnis entzogen werden.

Praxis?

Die ein oder der andere fragt sich wohl, was diese Ausführungen mit der Überschrift zu tun haben. Ganz einfach: Das war die Theorie.

Die Praxis sieht leider anders aus. Verurteilt wurde A nämlich doch wegen § 323a StGB. Obwohl die Tathandlung weder ermittelt noch festgestellt wurde, ging das Gericht davon aus, dass aus dem Zustand des Berauschtseins geschlossen werden könne, dass A sich selbst berauscht hat.** An manchen bayerischen Gerichten ticken die Uhren halt anders als im restlichen (Rechts-)Staat.


* Berauscht er sich nur, um schuldlos Straftaten zu begehen, so wird er über die Rechtsfigur der “actio libera in causa” für die Straftaten selbst bestraft)

** Dazu der BGH a. a. O.:

Die Verurteilung wegen Vollrausches setzt die zweifelsfreie Feststellung voraus, daß der Täter sich in einen Rausch versetzt hat. Ein Schuldspruch wegen Vollrausches scheidet dagegen aus, wenn das “Ob” der Berauschung zweifelhaft ist.

Theorie vs. Praxis

Es war ein Fall wie aus dem strafrechtlichen Klausurfallbuch fürs Referendarsexamen, der heute am örtlichen Amtsgericht verhandelt wurde:

A fuhr mit seinem Pkw auf der B 123 und kam wegen eines alkoholbedingten Fahrfehlers auf die Gegenfahrbahn, wo er einen entgegenkommenden Pkw schrammt. Nach wilder Verfolgungsjagd taumelt A aus dem Auto und erklärt dem Geschädigten B und dem Polizisten P, dass er keine Ahnung hat, wo er denn überhaupt sei. Die einfachsten Anordnungen kann er nicht verstehen oder ihnen gar folgen. Ein späterer Test ergibt eine maximale BAK von 2,49 ‰. In für die Praxis seltener Deutlichkeit erklärt der Sachverständige*, dass hier garantiert ein Fall des § 20 StGB vorliegen muss. Feststellungen, wann und unter welchen Umständen A wie viel getrunken hat, wurden nicht getroffen. Wie ist A zu bestrafen?

Vorschläge gerne in den Kommentaren, Auflösung hier.


* Der Sachverständige hat 20+ Jahre Berufserfahrung und macht den ganzen Tag nichts anderes, als solche Fälle zu beurteilen. Für die Staatsanwältin war er fachlich inkompetent. Ein Schelm, der dabei Böses denkt…

Frustrierende Einzeiler

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Das Amtsgericht hatte sich wirklich nicht mit Ruhm bekleckert in seinem Urteil. Zukünftige Ereignisse wurden als Vergangenheit dargestellt, Daten frei erfunden (was auch aus den Urteilsgründen ersichtlich war), zwingendes Recht nicht beachtet und Rechtsprechung zur Wirkungslosigkeit des Fahrverbots nach Zeitablauf einfach mal ignoriert bzw. eine fixe 2-Jahres-Grenze erfunden, die es so nicht gibt (da hat mir sogar die GenStA zugestimmt).

Bei Einlegen der Rechtsbeschwerde war ich daher frohen Mutes und habe in deren Begründung inbesondere ausführlich darauf hingewiesen, dass nach h. M. 22 Monate nach der Tat die Erziehungsfunktion eines Fahrverbots i. d. R. zu verneinen ist, wenn der Betroffene sich seit der Tat vorbildlich verhalten hat (vgl. BGH zfs 2004, 133: 1 Jahr und 9 Monate; OLG Hamm NZV 2004, 598: 16 Monate zum Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung, 22 Monate zum Zeitpunkt des Urteils in der Revisionsinstanz; OLG Zweibrücken, NZV 2014, 479: 1 Jahr und 8 Monate; OLG Zweibrücken, Urteil vom 25.08.2011 – Az. 1 Ss Bs 24/11: 1 Jahr und 5 Monate) und dass doch zumindest jetzt die magischen 2 Jahre, die das Gericht für erforderlich erachtet hat, abgelaufen sind (vgl. OLG Zweibrücken, Urteil vom 25.08.2011 – Az. 1 Ss Bs 24/11; OLG Bremen, NStZ-RR 2014, 257; BayObLG, NZV 2004, 100).

Das OLG Bamberg interessiert das alles nicht, es kommt ein Einzeiler ohne jegliche Begründung:

Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthaften Rechtsbeschwerde hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

Ich weiß ja, dass das Massenverfahren beim OLG sind, für die wenig Zeit ist, weil die Regierung sich mal eingebildet hat, alle Rechtsbeschwerden aus ganz Bayern könnten dort bearbeitet werden, aber trotzdem könnte man ja erwarten, dass zumindest erklärt wird, wieso man die Rechtsprechung des BGHs und der anderen OLGs ablehnt. Aber da spricht wohl der – mit jeder solchen Entscheidung ein Stück weit sterbende – Idealist in mir…

Akten Ping-Pong

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Nimmt ein Richter seinen Auftrag im Zwischenverfahren ernst, so kann es schon mal sein, dass er die Akten post-wendend an die Staatsanwaltschaft zurückschickt, weil diese nicht sauber und ausführlich genug ermittelt haben. Dann ist die Nachermittlung angesagt.

Gefällt ihm das Ergebnis der Nachermittlung nicht oder (eher noch) weist ihn der Verteidiger darauf hin, dass das Ergebnis der Nachermittlung von minderer Qualität ist, so schickt er die Akten auch noch ein zweites, drittes, viertes etc. Mal zurück. Vielleicht auch so lange, bis es dem Staatsanwalt zu bunt wird und er einer anderen Erledigung des Verfahrens zustimmt.

In einem solchen Fall wird seit 2012 ermittelt. Die Staatsanwaltschaft hat sich Zeit gelassen und es auch nicht für erforderlich erachtet, die einzige Belastungszeugin – trotz hohen Alters – richterlich vernehmen zu lassen bevor sie 2014 verstorben ist. Der Richter hat die Akte mehrmals zurück geschickt, weil noch Sachen zu ermitteln waren und simpelste Sachverhalte nicht eigenständig aufgeklärt wurden (z. B. wie die angeblich quasi blinde, vollkommen verwirrte Geschädigte zur angeblichen Tatzeit noch 3 Tageszeitungen lesen konnte und ein Betreuungsverfahren zwei Jahre später mit der Begründung eingestellt wurde, dass keine Betreuung erforderlich sei). Schließlich hat er sie noch zweimal zurück geschickt mit der Bitte um Mitteilung, ob die Staatsanwaltschaft wirklich an der Anklage festhalten wolle.

Die Staatsanwältin wollte leider fleißig Ping-Pong spielen und erklärte, trotz allem an der Anklage festhalten zu wollen. Nun ist wohl abzuwarten, wie das Ganze in der Hauptverhandlung in Verlängerung geht.

Kreatives Aktenstudium

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Manchmal kann man sich als Verteidiger des Gefühls nicht erwehren, dass Staatsanwälte einfach mal alles anklagen und sich denken “Soll doch das Gericht sich drum kümmern”.

So erreicht uns eine Anklage gegen den Mandanten, den nach Ermittlungsakten kein Zeuge bei der (gemeinschaftlichen) Tat gesehen hatte und auch keiner als Täter wieder erkannt hatte.

Der Staatsanwalt, davon unbeirrt, schreibt dann in die Anklage:

Der Tatnachweis wird daher im Rahmen der Hauptverhandlung durch die nachbenannten Beweismittel geführt werden. Im Hinblick auf die Ermittungen der Identität der Tater wird auf den polizeilichen Bericht (Bl. XX) Bezug genommen. Hinsichtlich der gemeinschaftlichen Begehung der Körperverletzungen durch alle drei Angeschuldigten wird der Nachweis insbesondere durch die Angaben der Zeugin A (vgl. Bl. XX) geführt werden […]

Das klingt schon mal toll, nicht? Wenn dann nicht im polizeilichen Bericht zum Mandanten stünde, dass keiner der Geschädigten den angeblichen dritten Täter, also den Mandanten, beschreiben und bei den Wahllichtbildvorlagen – immerhin drei Stück –  (sicher) wiedererkennen konnte.
Die Hauptbelastungszeugin A hat im Rahmen der Wahllichtbildvorlagen sogar ausdrücklich angegeben, dass sie ihn 1) nicht wieder erkennt bzw. 2) einen anderen als Täter erkannt habe.

Da hat der Staatsanwalt wohl besonders kreatives Aktenstudium betreiben müssen, um das Ermittlungsergebnis so hinzubiegen, dass die entlastenden Angaben der Zeugen, die den Mandanten nicht erkannt haben, als belastende Angaben in der Anklageschrift auftauchen konnten…

“Die Geschichte glaub ich Ihnen nicht”

So kann man die Urteilsbegründung zusammenfassen, aufgrund derer sowohl das AG wie auch das LG den Mandanten wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) verurteilt haben.

Das ist passiert:
Der Mandant – erkannt, dass er möglicherweise fahruntüchtig sein wird – hat vor seinem Besuch der Kneipe seinen Bruder gebeten, ihn nachts mit seinem Pkw heimzufahren. Um halb eins nachts ist er dann auch zum Bruder in dessen nahegelegenes Haus gekommen, der extra wach geblieben war. Man fuhr Richtung Heimatort des Mandanten, bis der Bruder aufgrund eines eigenen Fahrfehlers von der Straße abkam und im Graben liegen blieb. Der Pkw war nicht mehr zu bewegen, der Bruder aufgrund eines kurz vorher erfolgten zahnärztlichen Eingriffs und dem nun gefolgten Streit mit seinem Bruder wegen des weiteren Vorgehens so verärgert, dass er kurzerhand nach Hause geht. Am nächsten Tag erzählt er seiner Frau davon. Der Mandant glaubt, der Wagen stehe noch teilweise auf der Straße und versucht diesen zu bewegen, was aber nicht klappt, weil er aufliegt. Erst jetzt kommen zwei Zeugen hinzu und sehen ihn am Steuer.

Für den Staatsanwalt war die Sache klar: Der Mandant war gefahren, schließlich war er ja dort. Der Hinweis auf die Fahrereigenschaft des Bruders wird geflissentlich ignoriert und die Anklage geschrieben. Amtsrichterin – nach kurzer Verhandlung – und Landgericht – nach ausführlicher Beweisaufnahme wobei u. a. festgestellt wird, dass der Mandant nie betrunken fährt, sondern immer mit dem Taxi heimfährt nach solchen Abenden – kamen beide zu dem selben Ergebnis, dass sie die Geschichte des Mandanten nicht glauben wollen und haben ihn verurteilt. Gegen den Bruder wird nun wegen vorsätzlicher uneidlicher Falschaussage (§ 153 StGB) ermittelt.

Nun mag man von der Geschichte halten, was man will. Fakt ist aber, dass die Tat, zu der er verurteilt, nicht nachgewiesen werden konnte. Tatsächlich das Fahrzeug führen i. S. d. § 316 StGB hat ihn keiner gesehen. Wie in dem hier beschriebenen Fall reichte vielmehr allein die Tatsache seiner Anwesenheit im Auto aus, um ihn zu verurteilen.

Zwei-Klassen-Strafrecht

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Das Recht ist keine billige Sache. Das gilt auch für das Strafrecht. Richter, Staatsanwälte und nicht zuletzt Verteidiger wollen bezahlt werden dafür, dass dem Recht zur Geltung geholfen wird. Und wenn der böse Bube dann (zu Recht?) verurteilt wird, dann soll er dies auch gefälligst selbst tragen, dachte sich der Gesetzgeber und erfand den § 465 StPO.

Nur dann, wenn der böse Bube gar keiner war, dann will er das Gericht auch davon überzeugen. Nun kann man – abgesehen von denjenigen, denen es ums Prinzip geht – zwei Klassen von Angeklagten unterscheiden:

  • Angeklagte, die entweder so viel Geld haben, dass es ihnen nichts ausmacht oder Angeklagte, die so viele Schulden haben, dass es sie gar nicht mehr kümmert, wenn noch mehr dazu kommen
  • Angeklagte, für die ein paar Tausend € Verfahrenskosten und Auslagen den finanziellen Ruin bedeuten

Dies führt zu der bizarren Situation, dass gerade diejenigen Angeklagten, die sich weit überwiegend rechtstreu verhalten, auch diejenigen sind, die zögern, ihre Rechte in einem Strafverfahren wahrzunehmen. Und wenn dann noch Staatsanwaltschaften und Gerichte auf Autopilot Entscheidungen fabrizieren, dann rüttelt das an den Grundfesten des Rechtsstaats.

Ein Beispiel aus jüngster Zeit:

Der Mandantin wurde eine Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) vorgeworfen. Sie saß mit 1,11 Promille in ihrem Auto, ca. 500 Meter von daheim entfernt, und hat sich ein bisserl was hinter die Binde gekippt. Weils kalt war, hat sie den Motor kurz angehabt, um die Heizung anzuschalten. Die hinzukommende Polizei folgerte – ohne weitere Anhaltspunkte – aus dem warmen Motor, dass sie dorthin gefahren sein muss. Gesehen hat es keiner. Der zuständige Staatsanwalt kümmert sich natürlich nicht um die Einlassung der Mandantin und beantragt einen Strafbefehl, den das Gericht – offensichtlich ungelesen – unterschreibt. Fahrerlaubnis weg und 1.500,00 € Geldstrafe. Für eine Tat, die nicht nachgewiesen werden kann.

Die Mandantin entscheidet sich, den Strafbefehl zu akzeptieren. Nicht, weil er inhaltlich richtig wäre. Sondern weil sie es sich finanziell nicht mehr leisten kann, weitere Kosten zu produzieren, wenn die – leider nicht geringe – Gefahr besteht, dass das Gericht auch nach durchgeführter Hauptverhandlung und ohne weitere Beweise zu einer Verurteilung kommt.

Fazit: Jemand, der genug Geld hat oder dem entsprechende Schulden egal sind, hätte möglicherweise – einen halbwegs rechtstreuen Richter vorausgesetzt – einen Freispruch erlangen können, so dass die Staatskasse die Kosten und Auslagen zu tragen hat. Derjenige, der das Risiko aus finanziellen Gründen nicht eingehen kann, dem bleibt diese Möglichkeit verwehrt.

Polizeilich verordneter IQ-Test

Jeder, der schon mal einen IQ-Test gemacht hat, wird diese Aufgabenstellung kennen: Man bekommt mehrere Bilder vorgelegt und soll erkennen, welches nicht zu den anderen passt:

house1 house4 house3 schiff house2
a) b) c) d) e)

Auch die Polizei greift gerne auf eine Variante dieses Tests zurück, die sie dann “Wahllichtbildvorlage” nennt. Dabei werden dem Zeugen – der möglicherweise vorher (gemeinerweise) einen Täter beschrieben hat, dessen Beschreibung nicht auf den von der Polizei auserkorenen Verdächtigen passt – Bilder von 8 Personen, inklusive dem Verdächtigen, vorgelegt. Das Bild des Verdächtigen fällt dabei leicht aus der Reihe, z. B. durch Schmuck, Haarlänge, Gesichtsausdruck etc. Wenn der Zeuge nun das Bild sieht, “erkennt” er den Tatverdächtigen sogleich (unterbewusst) wieder – immerhin sieht der ja anders aus als die anderen.

Wer jetzt meint, ich würde mir das ausdenken, dem würde ich gerne die Ermittlungsakte zeigen, die mir vorliegt. Da hatte der Mandant auf dem vorgelegten Foto – anders als zur vermeintlichen Tatzeit – als einziger in der Gruppe der Vergleichspersonen einen prominenten Nasenring und eine Goldkette. Dass die selben Zeugen bei ihrer Befragung einen 15 Jahre jüngeren Mann ohne Nasenring geschildert haben – und somit eigentlich Bilder einer solchen Person hätten gezeigt werden müssen – ist dann auch schon egal.