Die erstaunte Staatsanwältin

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Quelle: Pixabay.com (gemeinfrei)

In der lokalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung wird heute über eine Verhandlung beim AG München – Az. 1031 Ds 467 Js 203867/15 jug – berichtet, in der ein Angeklagter freigesprochen wurde, weil auf einem von der Polizei gedrehten Video eindeutig zu erkennen war, dass er in Notwehr gehandelt hat. Zitat aus dem Bericht:

Der Richter ließ sich in der Verhandlung die maßgeblichen Videosequenzen vorspielen. Daraufhin großes Erstaunen, selbst bei der Staatsanwältin im Sitzungssaal: Es war deutlich zu sehen, dass die Aggression zunächst eindeutig nicht von dem jungen Mann ausgegangen ist, sondern von dem vermeintlichen Opfer. (Hervorhebung von mir)

Was leider in dem Bericht nicht steht: Wieso war die Staatsanwältin denn so erstaunt? Weil das von der Anklage in den Prozess eingeführte Video die Unschuld des Angeklagten bewiesen hat? Oder weil offensichtlich sowohl Polizei als auch der ermittelnde Staatsanwalt (nicht unbedingt derjenige, der dann die Anklage vor Gericht verteidigen muss) massiv geschlampt und das Video gar nicht angesehen haben? Oder gar Anklage trotz eindeutigen Entlastungsbeweis erhoben wurde?

Bin ich entsetzt, dass es zu einer Anklage kommt, obwohl kein hinreichender Tatverdacht bestand? Das auf jeden Fall. Bin ich erstaunt darüber? Leider nicht mehr. Ein Glück für den Angeklagten, dass zumindest der Richter in diesem Fall seine Arbeit gemacht hat. Auch darauf können unschuldig Angeklagte leider nicht immer hoffen…

7 Gedanken zu „Die erstaunte Staatsanwältin

  1. So ganz hat auch der Richter seine Arbeit nicht gemacht, hätte er sich das Video doch auch im Zwischenverfahren bereits besehen und dem Angeklagten die Hauptverhandlung ersparen können. Ich habe jedenfalls auch gerade einen Fall, in dem sich einer Videoaufzeichnung entnehmen läßt, daß sich das Geschehen anders als in der Anklage beschrieben abgespielt hat. Auch der Hinweis der Verteidigung auf diesen Umstand führte nicht dazu, daß das Gericht die Anklage nicht bzw. nur eingeschränkt zur Hauptverhandlung zugelassen hat…

    • Lieber Kollege, da haben Sie natürlich recht, ich war auch fast versucht, das zu schreiben. Dann ist mir aber eingefallen, dass die allermeisten Richter das Zwischenverfahren ohnehin nicht ernst nehmen, sondern einfach mal alles zulassen und dann in der Hauptverhandlung erst beginnen, sich damit auseinander zu setzen…

  2. Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in Amtsgerichtssachen ist nur ausnahmsweise mal mit der Person identisch, die die Anklage verfasst hat (und hat auch vor der Hauptverhandlung keinen Zugriff mehr auf die eigentliche Akte und die Beweismittel); der Sitzungsvertreterin des vorliegenden Falls ist daher mutmaßlich keinerlei Vorwurf zu machen.

    Ebensowenig ist dem Richter ein Vorwurf zu machen, da eine Vorwegnahme der Beweisaufnahme nicht zu den Aufgaben des Zwischenverfahrens gehört.

    Geschlampt – und zwar massiv – hat aber natürlich der Anklageverfasser.

    • 1. Korrekt, steht ja so auch im Beitrag.

      2. § 202 StPO spricht da eine andere Sprache. Zumindest die Hauptbeweismittel sollte der Richter in einem solchen Fall sichten, wenngleich mir bewusst ist, dass das nicht gelebte Praxis ist.

    • Im Zwischenverfahren muß der Richter zur Entscheidung kommen, ob die Anklage Erfolgsaussichten hat. Dafür sind selbstverständlich die in der Anklage aufgeführten Beweismittel heranzuziehen. Ohne vorläufige Bewertung der Beweismittel, also der verschriftlichten Zeugenaussagen, Urkunden, etc. kann die Entscheidung nicht getroffen werden.

      Sicherlich ist die krasse Fehlentscheidung auf die sachliche Ausstattung der Justiz zurückzuführen. Da kann keiner “einfach” auf einen funktionierenden Rechner und die DVD zugreifen.

      Hier wäre ein Verteidiger bestimmt hilfreich gewesen. Auch im Zwischenverfahren mit dem Hinweis, daß die “Tatdokumentation” per Video keinen hinreichenden Tatverdacht erkennen läßt.

  3. @RA Jede
    In Bayern haben die Richter einen PC mit Internetzugang, juris, jurion und beck-online. Außerdem CD/DVD-Laufwerk. Sie können also idR Videos in gängigen Dateiformaten ansehen.
    Ob der Richter in der Verhandlung auch die Eröffnung beschlossen hat und daher der Vorwurf der Schlamperei gerechtfertigt ist, ist unklar. Es gibt ja gerade in der Justiz nicht gerade selten Richterwechsel und auch mal eine Urlaubsvertretung.
    Ob Anlass bestanden hat, das Video anzusehen oder aber (vermeintlich) ausreichende Standbilder bei der Akte waren, also ggf. von der Polizei etwas zu sehr gefiltert wurde, ist auch unklar.
    Und angesichts des Zeitungsartikels ist mir auch unklar, wieso ein bloßes Zurückschlagen ohne bevorstehenden (weiteren) Angriff durch Notwehr gerechtfertigt sein sollte oder das Video eine Notwehrlage zeigt. Dass der Angeklagte erneut angegriffen wurde oder weiter Angriffe erwartete, bzw. entsprechendes vorbrachte, lässt sich dem Artikel leider nicht entnehmen.

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