In dubio contra reo

Es gibt wohl kaum eine Berufsgruppe, die so desillusioniert mit der Strafjustiz ist, wie die Anwaltschaft. Und große Teile der Strafjustizbehörden bemühen sich ständig, diesem schlechten Ruf gerecht zu werden:

Der Mandant hatte sein Auto – um seinem Zuhause kurzzeitig zu entfliehen – wenige hundert Meter weiter am Straßenrand abgestellt, ein Sixpack aufgemacht und ordentlich seinen Frust wegzutrinken versucht. Wenige Zeit später kommen zwei freundliche Polizeibeamte und lassen ihn blasen und ordnen eine Blutabnahme an. Festgestellter Wert: 1,11‰. Der Mandant sagt ihnen freiwillig, dass er dorthin gefahren ist, aber nicht mehr weiß, wann.

Ohne, dass dem Mandanten nachgewiesen werden könnte, dass er tatsächlich mit 1,11‰ gefahren ist, beantragt der Staatsanwalt wegen “dringenden Tatverdachts” des Vorliegens einer Straftat nach § 316 StGB die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO, was der zuständige Ermittlungsrichter ohne scheinbar die Akte zu lesen, durchwinkt. Weder Staatsanwalt noch Gericht haben scheinbar wahrhaben wollen, dass bei der Beweislage zu Gunsten des Beschuldigten davon auszugehen ist, dass er nicht betrunken gefahren ist.

Jetzt steht der Mandant wohl erstmal für mindestens ein halbes Jahr ohne Führerschein da, obwohl er keine Straftat begangen hat. Das ist doch ein schönes Weihnachtsgeschenk…

12 Gedanken zu „In dubio contra reo

    • Ich hab es absichtlich so geschrieben, um die Leser nicht zu verwirren, die nur “in dubio pro reo” kennen und dann nicht wissen, was damit gemeint sein soll 😉

    • “Unwillig” solche Beschlüsse aufzuheben ist eher das Problem. Ich habe es in anderen Fällen schon gehabt, u. a. erst vor einem halben Jahr ein Fall bei der auch eine solche Tat vorgeworfen wurde, ohne dass nur ein Beweismittel tatsächlich die Schuld des Beschuldigten belegt hätte. Damals war die Begründung ungefähr so: “Der entlastende Vortrag ist klar Schutzbehauptung und auch wenn ihn keiner fahren hat sehen und er auch keinem gesagt hat, dass er gefahren ist, hat er sich verdächtig verhalten und wird daher zu verurteilen sein”. Die bayerische Justiz halt…

  1. Was Sie leider unerwähnt lassen, was aber für die Beurteilung nicht ganz uninteressant wäre, ist, wie die Polizisten denn auf Ihren Mandanten aufmerksam wurden. Saß er im Auto, das Bier vielleicht noch in der Hand? Dann würde ich Ihnen zustimmen, dass die zwingende Annahme einer absoluten Fahruntüchtigkeit eher fernliegt. Oder hat ihn vielleicht jemand fahren sehen (was Sie wohl kaum erwähnen würden)? Wurden Ausfallerscheinungen beobachtet?

    Sicher werden in der Justiz – wie überall – Fehler gemacht. Ob der Fehler hier aber bei der Justiz oder eher in Ihrer Bewertung liegt, lässt sich bislang m.E. nicht wirklich beurteilen. Insbesondere, wenn Sie von “großen Teilen” sprechen.

    • Aus der Akte ergibt sich nur, dass er im Auto saß. Fahren hat ihn ausdrücklich keiner gesehen. Ausfallerscheinungen sind nicht vermerkt, aber dass der Beschuldigte alkoholisiert wirkte. Aber halt erst durch die eintreffenden Polizisten.

      Ich gebe gerne zu, dass ich natürlich von den Erfahrungen mit der oberbayerischen Strafjustiz etwas verbittert bin, wenn ich von “großen Teilen” spreche. Nichtsdestotrotz wird wohl statistisch nachweisbar sein, dass viele Staatsanwälte die Bezeichnung “objektivste Behörde der Welt” nur vom Namen her kennen und sich nicht sonderlich bemühen, entlastende Umstände zu ermitteln.

  2. Das Problem liegt weniger darin, dass die Justiz grob rechtswidrig arbeitet, sondern dass Anwälte entweder nicht verstanden haben oder verstehen wollen, was “In dubio pro reo” bedeutet. Der Satz besagt nicht, dass immer die dem Beschuldigten günstigste (theoretisch oder praktisch ausdenkbare) Version zugrunde zu legen ist, sondern nur, dass dann, wenn der Richter Zweifel hat, sich diese zugunsten des Angeklagten auswirken. Das setzt also voraus, dass der Richter sich nicht eine begründbare Überzeugung vom Tathergang gebildet hat, sondern selbst immer noch zweifelt. Ob der Anwalt zweifelt ist dafür piepegal . (Näherers in jedem Fachkommentar)
    Und es gilt ebenso der häufig von Verteidigerseite ignorierte Satz, der immer wieder in BGH-Entscheidungen zu lesen ist: Der Tatrichter ist nicht gehalten, eine Einlassung des Angeklagten als “unwiderlegbar” zugrunde zu legen, für deren Richtigkeit es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt. Der Richter muss also nicht deshalb zweifeln und dann in dubio entscheiden, nur weil der Angeklagte eine mehr oder weniger glaubhafte Geschichte erzählt.

    • Dem ist zwar im Grunde zuzustimmen. Auch Sie haben aber korrekterweise angenommen, dass der Richter sich eine begründbare Überzeugung vom Tathergang gebildet haben muss, also mit den in der Hauptverhandlung zur Verfügung stehenden Beweismitteln einen solchen Tathergang begründen kann. Dies ist aber dann nicht der Fall, wenn – wie in dem von mir geschilderten Fall – keine Beweismittel existieren um das Tatbestandsmerkmal “Führen eines Kraftfahrzeugs” zu beweisen – weil ihn keiner hat fahren sehen und er auch nicht gesagt hat, dass er alkoholisiert gefahren wäre. Bei aller Anwaltsschelte über die Fehlinterpretation von “in dubio pro reo” darf man nicht vergessen, dass ich auch als Richter nicht befreit bin, dem Angeklagten die Tat tatsächlich begründbar nachzuweisen.

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